Jeder hat Recht – oder nicht? So viele Menschen, so viele Sichtweisen und Meinungen gibt es. Das ist nicht verkehrt und für eine Demokratie sogar notwendig. Aber wenn das Leben zu kompliziert wird, dann wissen wir nicht mehr, wem wir noch glauben können, sollen oder dürfen. Wir verlieren die Übersicht und damit auch unsere innere Ruhe. Dies erzeugt Unsicherheit, wo wir doch eigentlich gern Sicherheit hätten. Darum wählen wir für uns selbst eine der vielen möglichen Sichtweisen und bringen so die Vielfalt zurück auf einfache Positionen. Und suchen wir nach Bestätigung anstelle von Diskussion und Widerspruch. Außerdem lieben wir einfache Erklärungen. Am liebsten auch bei Dingen, die nicht einfach zu erklären sind. Wir wollen die Übersicht wieder zurückhaben und beginnen deshalb einzuteilen: dafür oder dagegen, Freund oder Feind, schwarz oder weiß. Für oder gegen die Corona-Maßnahmen. So werden komplizierte Sachverhalte einfach. Es ist ein verständlicher Versuch, das Leben überhaupt noch handhaben zu können. Leider führt dies zu einer Teilung, zur Polarisierung. Diese Teilung sorgt inzwischen – nicht nur in meinen Augen – für größere Probleme als das Corona-Virus, das der konkrete Anlass für die aktuelle Polarisierung ist.
UNRUHE IN ZEIT UND GEIST
So verständlich die Polarisierung auch ist, sie führt am Ende zu Erstarrung und später auch zu Aggression. Dann werden wir nicht mehr nach Wahrheit suchen, denn die haben wir bereits gefunden. Statt zusammen und suchend unterwegs zu sein, werden nun ideologischen »Burgen« gebaut. Deshalb sind kaum noch Zwischentöne zu hören, die diese starren Positionen ergänzen oder relativieren könnten. Hinter den Burgmauern sitzen Egos, die alle Recht haben. Solche Egos sind überall zu finden und sie wollen es wissen: in den Familie, in der Politik, in den Kirchen, bis hin zu Konflikten zwischen Staaten und Religionen. Alle Egos sind verliebt in ihre individuelle Wahrheit und in ihre Rechthaberei. Dies irritiert und davon werden wir müde – nur von unserer eigenen Meinung nicht. Weil die Positionen sich selbst bestätigen, werden die verschiedenen Meinungs-»Blasen« immer mehr zu geschlossenen Welten. Sie grenzen sich voneinander ab, schließen sich immer mehr ein – und die Gemüter erhitzen sich. Recht zu haben wird immer wichtiger. Der Ton wird schärfer, die »Zündschnüre« werden kürzer und die Aggression nimmt zu. Wenn wir uns nicht bald darum kümmern, werden diese Meinungs-Blasen zu »Zeitbomben«, die uns um die Ohren fliegen können. Außer wenn wir diese Blasen, unsere eigenen Meinungen, weniger ernst nehmen und sie als glänzende »Seifenblasen« ansehen, die keine wirkliche Existenz haben, weil sie sich bald von selbst auflösen.
DER AUSGANG LIEGT OBEN
Meinungen sind eigentlich nicht mehr als Sicht-Weisen, sie sind Möglichkeiten, das Leben zu betrachten. Sie enthalten also immer nur eine Teil-Wahrheit. Eine andere Person wird den gleichen Sachverhalt anders betrachten. Was wir sehen, hängt von unserer persönlichen Interpretation ab, die in unserer Erfahrung und in unserem Eigeninteresse gründet (Pastor Van Galen). Menschliche Wahrheiten sind also prinzipiell relativ, immer ist auch das Gegenteil möglich – und auch wahr. Keine dieser Meinungen oder menschlichen Wahrheiten ist »wahr« in der absoluten Bedeutung des Wortes. Immer mehr Menschen kommen deshalb zu der Schlussfolgerung, dass es so etwas wie Wahrheit eigentlich nicht gibt. Und dass es vor allem keine Absolute Wahrheit gibt. Zu dieser hoffnungslosen Schlussfolgerung kommen sie auf Grund ihres Denkens. Aber zu denken ist zu wenig. Es wäre gut, wenn wir uns um mehr bemühen würden als nur zu denken: nämlich zu leben aus einer vertikalen Orientierung heraus. Polarisierung ist eine horizontale Bewegung, die allzu sehr die trennenden Unterschiede betont. Deshalb sind die Polarisierung und die Spannung, die sie mit sich bringt, nur vertikal zu aufzulösen, indem wir die Gegensätze übersteigen und die Betonung auf das Verbindende legen. „Wir müssen dringend miteinander reden!“ (Bundespräsident Steinmeier, Weihnachten 2018!). Nicht übereinander, sondern miteinander, über die Meinungs-Blasen – und vor allem über die Meinungs-Blasen hinweg. Falls wir noch wählen können, dann lieber die »Seifenblasen«!
Vaalser Weekblad, 20. Nov. 2020
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