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Wohin mit unserer Sehnsucht?

Beobachtungen zum Verhältnis zwischen Bildung und Mystik

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Erika Helene Etminan

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Nicht alle Philosophen oder Theologen sind Mystiker. Und nicht alle Mystiker sind Philosophen oder Theologen; auch haben sie wahrscheinlich nicht alle Bücher über Mystik gelesen. Mystik ist nämlich kein Ergebnis von Bildung oder von Reflexion. Sie hat weniger mit Wissen zu tun, sondern eher mit »Erfahrung«. Mystiker sind Menschen mit Gotteserfahrung, nicht weil sie so gebildet wären, sondern weil Gott es so will. Die akademisch geprägte Beschäftigung dagegen untersucht das »Phänomen« Mystik. Auf diese Weise sammelt sie viel Wissen über Mystik an, das aber nicht mit der eigentlichen mystischen Erfahrung identisch ist. Trotzdem spielen in der Beschäftigung mit Mystik die Bildung und die akademische Reflexion eine dominante Rolle. Wenn ein Autor oder Vortragender akademisch gebildet ist, präsentiert er den eigenen Beitrag gern auch im Stil von »Bildungswissen«. Dann wird die Kommunikation angereichert mit Verweisen auf andere Philosophen, Theologen oder berühmte Mystiker. Es wird eine Botschaft gesendet, die auf der Empfängerseite ebenfalls Bildung voraussetzt. In diesem Fall wird die akademische Bildung zum Referenzrahmen für die Beschäftigung mit Mystik. Das Ergebnis ist eine Kommunikation, die mit ihrer Bildungssprache weniger gebildete Menschen ausschließt – und die zudem den Dialog mit anderen Religionen erschwert. Kommunikation über Mystik ist also oft eine doppelte, obwohl es eigentlich nicht so sein müsste. Aber können wir anders? Wir sind Menschen, also klammern wir uns an das, was wir gut können, was wir be-herrschen – und mit dem wir uns gern sehen lassen. Statt sich von einer beschriebenen mystischen Erfahrung innerlich berühren zu lassen, werden Texte von Mystikern in die intellektuelle »Mangel« genommen. Wobei wir übersehen, dass jede zusätzliche Meinung und Interpretation uns weiter von der eigentlichen Erfahrung entfernt. Und keiner fragt danach, ob das Ergebnis noch etwas mit der ursprünglichen mystischen Erfahrung oder Einsicht zu tun hat. Wissenschaft und Bildung können so zum Selbstzweck werden.

 

Bildung und Mystik – ein Dilemma?

 

In Philosophie und Theologie stapeln sich seit ewigen Zeiten Konzepte über Konzepte, Differenzierung über Differenzierung und Ergänzung auf Ergänzung. Man redet über Mystik und über Denkweisen über Mystik und ist auf einmal mit allem Möglichen beschäftigt, aber nicht mehr mit Erfahrung. Standpunkte, Sichtweisen, Meinungen, Vergleiche und abstrakte Formulierungen … Im akademischen Betrieb scheint dies wichtig zu sein. Die Mystik selbst hat all dies nicht nötig. Eher scheint es, dass wir selbst es nötig haben – aber warum nur? Welches Bedürfnis wird hier befriedigt? Welche akademische Identität bestätigt sich auf diese Weise selbst? Zudem definiert das akademische Denken gern, was Mystik ist und was nicht, und nimmt mit solchen Definitionen Grenzziehungen vor, wo die Mystik selbst doch eigentlich Grenzen überwinden möchte.

Mystik ist keine rationale Aktivität und Bildung ist nicht das Gleiche wie Erkenntnis, die sich aus lebendiger, persönlicher Erfahrung ergibt. So hilfreich akademisches Denken auch sein kann, wenn es darum geht, die Wirklichkeit zu durchdringen und zu systematisieren, so kann es zugleich zu einem großen Hindernis werden, wenn es darum geht, sich der »Essenz« dieser Wirklichkeit zu nähern. Denn Bildung sammelt kognitives Wissen an und hortet dieses Wissen in Büchern wie in Konservendosen: unlebendige Nahrung! Auf diese Weise erzeugt sie die Illusion, dass wir etwas wüssten, dass wir Ahnung hätten. Bis hin zur Illusion, dass wir Gott und Mystik als eine Art »Besitz« in der Tasche bzw. im Bücherregal hätten. Wenn wir uns aber mit der gebildeten Suche auf das beschränken, worin wir ohnehin schon gut sind, dann werden wir genau das finden, was wir bereits kennen oder können. Wir halten es dann wie jemand, der den Autoschlüssel, den er verloren hat, unter einer Laterne sucht. Nicht etwa, weil er den Autoschlüssel dort verloren hätte, sondern weil dort Licht ist (Paul Watzlawick). Wenn wir also versuchen, Mystik mit »Kultur«-Instrumenten zu greifen, werden wir sie nicht zu fassen bekommen. Sie ist intellektuell nicht zu greifen, eher geht es darum, sich von ihr ergreifen zu lassen. Buchwissen und wissenschaftliche Methodenkenntnis sind zwar nützliche Instrumente im akademischen »Werkzeugkasten«. Aber es gibt Türen, die sich damit nicht öffnen lassen. Deshalb kann es sein, dass Bildung und akademische Reflexion uns auf eine verkehrte Spur setzen und zu »Schloss und Riegel« an der »Himmelstür« werden. Während wir nämlich dabei sind, in (heiligen) Büchern einen Schimmer von Mystik zu erhaschen, entgeht uns die Anwesenheit von Mystik im übrigen Leben. Zu finden ist sie eher im Gebet, im ehrfürchtigen Schweigen, in der Demut vor der Göttlichkeit des Anderen und vor der Schöpfung – vor allem, wenn diese spontan auftauchen. Genauso gut verbirgt sie sich jedoch in jedem Atemzug, im Herzschlag, in Geburt und Tod, in den schönen und in den krisenhaften Momenten des Lebens und des Sterbens. Die Wissenschaft der Psychologie war jedoch so schlau, erst dann von Erfahrung zu sprechen, wenn ein persönliches Erleben auch geistig reflektiert wurde. Damit wurde das Primat des Denkens über dem reinen Erleben festgelegt. Ohne Denken keine Erfahrung. Hierzu hat auch die Verselbständigung des Denkens insgesamt beigetragen, das gern auch spekulativ ist und dann meint, ohne reale Erfahrung auszukommen. Mystische Erfahrung selbst ist jedoch ohne Reflexion bzw. geht der Reflexion voraus. Sie ist eine reale Erfahrung, die durch Wissen und Denken weder ersetzt noch aufgerufen werden kann. Sie benutzt kein Denken, denn sie befindet sich über oder jenseits des Denkens. Erst wenn die eigentliche mystische Erfahrung verblasst, setzt das Denken wieder ein. Im Gegensatz zu „Ich denke, also bin ich!“ (René Descartes, 17. Jahrhundert), der Prämisse der westlichen Kultur schlechthin, weiß jeder Mensch mit tiefgehenden Meditationserfahrungen, dass es eigentlich genau andersherum ist: „Ich bin vor allem dann, wenn ich nicht denke!“ Aber noch setzt unsere Kultur auf Denken statt auf Meditieren und auf Bildung statt auf Mystik. Mystik selbst hat jedoch keine Bildung nötig, für sie gilt das Primat der Erfahrung. Sie ist offen-sichtlich und bleibt doch gern im Verborgenen. Ein sensibles, scheues Wesen – und das darf sie auch sein. Das muss sie selbst sein. Notfalls zieht sie sich zurück, um sich vor dem Zugriff allzu gebildeter »Geister« zu schützen. Dann aber wäre Bildung kontraproduktiv. Obwohl wir uns also einerseits intensiv mit Mystik beschäftigen, macht diese gebildete Beschäftigung uns vielleicht sogar zu Mystik-Ignoranten. Zumindest brauchen wir auf diese Weise nicht unser mystisches Nicht-Wissen einzugestehen. Mystik benötigt keinen hoch-qualifizierten Verstand, sondern eine feine Wahrnehmung, eine offene und empfangende Grundhaltung und einen vielleicht forschenden, aber demütigen Geist. In der Mystik haben auch einfache Geister eine Chance – vielleicht sogar gerade die? Bildung an sich ist jedoch nicht schlecht, außer wenn sie versucht, an die Stelle von Erfahrung zu treten. Sie kann dann ungewollt das Geheimnis verdecken, statt ihm näher zu kommen.

 

Die Sehnsucht der Seele

 

Kritik zu äußern ist immer einfach. Viel einfacher jedenfalls, als sich selbst mit einem eigenen Standpunkt zu profilieren oder mit einer persönlichen Erfahrung zu präsentieren. Von daher ist jede Kritik immer auch ungerecht, denn sie ist die Reaktion auf eine Vorleistung anderer und macht es sich damit leicht. Diese Kritik an der »Okkupation« der Mystik durch die akademische Bildung (durch das Bildungsbürgertum!) wäre es eigentlich nicht wert, geschrieben und gelesen zu werden, gäbe es da nicht noch einen ganz anderen Aspekt, der viel wichtiger erscheint als diese Kritik. Ein Aspekt, der dringend der Aufmerksamkeit bedarf:

Akademische Reflexion erzeugt mit ihrem wissenschaftlichen Interesse eine Distanz zum Objekt der Untersuchung; dies ist sogar eine Grundbedingung für wissenschaftliches Denken. Die interessierte akademische Beschäftigung richtet sich auch auf Mystik als ein Objekt, zugleich aber schneidet sie sich genau damit vom Verlangen der eigenen Seele ab. Indem wir Mystik zum Objekt der Untersuchung machen, schieben wir sie – aus Sicht der Seele – immer weiter weg. So entsteht ein Abstand zur Mystik, obwohl sich zugleich das Verlangen der Seele auf diese richtet. Was im übrigen Wissenschaftsbetrieb also Voraussetzung und einigermaßen hilfreich ist, führt im Falle von Mystik zu einer Entfernung und Entfremdung von der eigenen Seele. Die akademische Untersuchung steht damit möglicherweise der eigentlichen Suche nach mystischer Erfahrung im Wege. Durch alle gebildete Beschäftigung mit Mystik kommt man der eigentlichen Mystik als Erfahrung keinen Schritt näher. Also sucht die Seele weiter – sie muss weitersuchen. Darum enthält dieser wissenschaftliche Abstand eine gewisse Tragik. Aber auch das wäre kaum erwähnenswert, wäre nicht zugleich durch diese akademische »Inbesitznahme« hindurch der Ruf der Seele zu hören. Das mystische Gehör nimmt das Verlangen wahr, das Heimweh der Seele nach ihrem göttlichen Zuhause. Einer Seele, die sich trotz allen Glaubens und Wissens in der Ab-Sonderung von Gott erfährt. Dieser sehnsuchtsvolle Ruf ist selbst durch die akademische Beschäftigung mit Mystik hindurch zu hören! Warum also geben wir in unserem Erleben und Erfahren der mystischen Dimension nicht mehr Raum? Diese Frage führt zu der Überlegung, ob die akademische Beschäftigung mit Mystik möglicherweise ein (unbewusster) Versuch von Kontrolle ist. Kontrolle schneidet uns vom Leben ab und damit auch von Mystik und von Gott. Kontrolle aufzugeben – oder zu verlieren – macht jedoch Angst. Es ist die Angst vor diesem (lebens-)gefährlichen Leben und vor diesem Unbekannten Gott. Die Angst vor dem, was Er vielleicht mit uns und unserem Leben anstellen wird, wenn wir uns wirklich auf Ihn einlassen. Ist uns deshalb dieser wissenschaftliche Abstand vielleicht sogar willkommen? Lesen wir deshalb lieber Bücher über Mystik, damit wir nicht wahrzunehmen brauchen, dass wir von Mystik umgeben sind? Gott ist uns näher als unsere Halsschlagader, sagen die Muslime. Vielleicht haben wir genau davor Angst? Kontrolle oder Hingabe – irgendwann werden wir uns entscheiden müssen. Dann aber stellt sich die Frage, ob wir unsere Erfahrungen akzeptieren, ob wir sie ernst nehmen und ihnen vertrauen. Und zwar auch dann, wenn sie in manchmal abwertendem Ton als »Privat-Offenbarung« bezeichnet werden. Na und? Mystische Erfahrungen stehen für sich selbst. Sie benötigen keine Anerkennung durch religiöse oder akademische Autoritäten; sie selbst sind Autorität genug. Aber sie benötigen unsere eigene Zustimmung und sie mögen es, wenn wir danach leben. Die Frage ist also, ob wir für unsere Erfahrungen ein-stehen.

Mystik geht den Weg zurück zur Ein-Fachheit. Auf dem Weg zu Gott werden wir letztlich alle materiellen und geistigen Besitztümer zurücklassen müssen, die uns jetzt so wichtig sind und von denen wir denken, dass sie uns ausmachen. Denn Gott ist gnädig. Um der Seele den Weg frei zu machen, wird Er in Seiner Güte nachhelfen und unsere Illusionen, Identitäten und Besitztümer auflösen. Also alle unsere vertrauten »Haltegriffe«. Dazu gehört möglicherweise auch die Bildung. Es sei denn, dass es uns gelingt, trotz aller Bildung ein-fach zu bleiben und auf allen Ebenen unseres Seins Gott zu suchen. Es wäre also gut, wenn wir neben der akademischen Reflexion und dem religiösen Glauben mehr auf die eigene, religiöse Erfahrung setzen würden. Wenn wir uns mehr um Erfahrung kümmern würden, kämen wir dem mystischen Ziel unserer Suche wesentlich näher. Wenn es um Mystik geht. Falls es um Mystik geht.

 

Veröffentlicht in:

Gesellschaft der Freunde christlicher Mystik e.V. (GFcM)

(http://www.gfcm.de)

Rundbrief 1 / 2021 (S.27-31)

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